Als ich mich kürzlich mit einigen Kumpels auf TeamSpeak (ein Programm für Telefonkonferenzen) amüsierte, quakte eine mir unbekannte Stimme „Wer bist du? Kenn ich dich?“.
Geschockt ob dieser tiefgründigen Frage verstummte ich… denn so blöd diese Frage auch schien – so schwer war sie auch zu beantworten…

Sicherlich hätte ich meinen Namen, Anschrift, Wohnort, Alter, etc. nennen können, doch macht es einen Unterschied ob ich nun Knut, Udo, oder Heinz heiße? Sind Namen nicht nur Schall und Rauch? Was hat mein Name oder der Ort an dem ich mich aufhalte mit mir zu tun? Mit dem was ich bin? Ich würde doch nur versuchen mich selbst über meine Umgebung zu definieren – eine solche Antwort kann doch nicht befriedigend sein!

Und weil ich dann doch ein recht kopflastiger Mensch bin, kam ich nicht umhin mir zu diesem Thema tiefere Gedanken zu machen.

Wer bin ich? Wie sollte ich mein Wesen in Worte fassen, und würden diese Worte zutreffen, sofern ich sie überhaupt zu finden in der Lage bin? Bin ich derjenige für den ich mich halte, oder bin ich der den andere in mir sehen? Wenn ich der bin den andere in mir sehen, kann ich dann diese Frage überhaupt beantworten, oder sollte sie dann nicht lieber einem meiner Bekannten oder Freunde gestellt werden?

Und ab welchem Grad ist ein Bekannter oder Freund qualifiziert diese Frage zu beantworten? Wie gut muss er mich kennen um wirklich in der Lage zu sein darüber Auskunft geben zu können? Das führt mich eigentlich zur Kernfrage dieses komplexen Dilemmas:

Ab wann kennt man einen anderen Menschen?

Das Problem bei Beantwortung dieser Frage ist, dass das Wort „kennen“ verschiedene Grade der Bekanntheit bezeichnen kann.

„Kennst du hier den einen da – aus dem 3.Semster? Den blonden mit der Brille?“

„Ja klar – der saß mir kürzlich in der Mensa gegenüber!“

In diesem Fall sagt das Wort „kennen“ nichts weiter aus, als dass man weiß welche Person gemeint ist.

„Ich glaube dein Freund guckt anderen Frauen hinterher!“

„Ach was – ich kenne ihn… So etwas würde er niemals tun!“

Nun sieht es mit der Bewandtnis von „kennen“ schon ganz anders aus – nun soll dieses Wort verdeutlichen, dass man meint wirklich alle Facetten des Charakters eines Menschen erfasst zu haben, dass man der Meinung ist wirklich jede Aktion und Reaktion des gegenüber voraussagen zu können. In diesem ganz speziellen Fall bedeutet „kennen“ auch ein großes Maß an Vertrauen.

Das unsagbar Blöde sowohl an Vertrauen, als auch an „jemanden kennen“ ist dass man immer erst hinterher weiß, ob das Vertrauen gerechtfertigt war, bzw. ob man jemanden jetzt wirklich gekannt hat.

Man kann zum Beispiel zum einen seit Jahren mit seiner Freundin zusammen sein, sie innen und auswendig zu kennen glauben – glauben zu wissen, dass sie ein treuer Mensch ist und zum anderen seinem Kumpel vertrauen, dass er niemals so dämlich sein würde etwas mit der Freundin eines Kumpels anzufangen. Doch wenn man dann nach Hause kommt, die beiden beim Bettensport überrascht und sich die allseits beliebte, allerdings etwas abgedroschene Floskel „Das ist jetzt nicht wonach es aussieht!“ anhören muss, fängt man plötzlich an es nach Sokrates zu halten, der schon vor 2400 Jahren den Satz prägte: „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ Dieser Satz ist zwar von der Logik her ein Paradoxon, aber deswegen in diesem Falle deswegen nicht weniger zutreffend!

Denn man kann einen Menschen gar nicht so gut kennen wie wir es manchmal zu tun glauben, denn der menschliche Charakter unterliegt ständiger Weiterentwicklung und damit einhergehender Veränderung. In dem Moment an dem wir jemanden zu kennen glauben, steht eigentlich schon ein anderer Mensch vor uns.

Das ist die Dynamik des Geistes – und Stillstand war schon immer der Tod! Ein Charakter der sich nicht weiterentwickelt lebt auch nicht wirklich – und da die meisten unter uns wert darauf legen sich mit lebendigen Menschen zu umgeben, müssen wir uns auch damit abfinden, dass wir unseren Gegenüber nie so gut kennen können, dass er uns nicht mehr (positiv oder negativ) überraschen kann.

Jemanden zu kennen oder ihm Vertrauen zu können ist also eine der größten Illusionen unseres Lebens, allerdings muss ich sagen, dass diese Illusion unser Leben bereichert, denn was wäre ein Leben in ständigem Misstrauen den Menschen gegenüber? Eine ständige Flucht!

Doch so gut es auch tut Vertrauen zu schenken und welches genießen zu dürfen, so müssen wir doch in Kauf nehmen, dass dieses Vertrauen nahezu ständig missbraucht werden könnte. Und so manches Mal müssen wir diesen Genuss teuer mit dem Schmerz bezahlen, den uns der Betrug bereitet. Denn nicht umsonst heißt es, dass diejenigen die uns am nahesten stehen uns auch am meisten wehtun können.

Da wir selbst ja eigentlich nur ein Produkt unserer Umgebung sind und der uns zugefügte Schmerz auch Auswirkungen auf unser Innerstes hat, wird die Dynamik des Geistes noch verstärkt. So kann es vorkommen, dass einen nach einem solchen traumatischen Erlebnis die eigenen Freunde und Bekannten nicht wieder „erkennen“! Dies hat wiederum Auswirkungen auf deren eigenen Charakter, weil diese erkennen müssen, dass sie ihren Freund wohl doch nicht so gut gekannt haben.

So zieht ein einzelner Betrug weite Kreise, wie ein Stein, der auf eine ruhende Wasseroberfläche trifft. Die Auswirkungen werden zwar schnell immer schwächer, doch da überall in unserem Umfeld solche Felsbrocken in den See der Vertrautheit klatschen, befinden wir uns in keiner Ausgewogenheit mehr, sondern in einem aufgewühlten Gewässer der ständigen Veränderung.

Und all diese Erfahrungen die von allen Seiten auf uns einschlagen, verändern ständig unser Wesen, dessen Veränderung weitere Wellen schlägt, weil wir plötzlich anders reagieren als unsere Mitmenschen es erwarten und diese damit eventuell enttäuschen.

Man sorgt also mit seiner eigenen charakterlichen Dynamik dafür, dass man den anderen gar nicht kennen kann! Damit wäre die zweite Frage des Unbekannten (Kenn ich dich?) beantwortet! „Nein…du kennst mich nicht!“

Doch wer bin ich nun? Ich kann schon mal nicht der sein, den andere in mir sehen, denn die kennen mich ja gar nicht! Kenne ich mich selbst? Ich bin zwar am besten in der Lage eine Bestandsaufnahme meines Charakters zu machen – doch ist dies nur eine Momentaufnahme. Innerhalb weniger Sekunden kann ein Ereignis meine Einstellungen umpolen, ich kann meine Meinung in verschiedenen Sachverhalten ändern und bin plötzlich nicht mehr der, der ich vorher war! Streng genommen ist diese Momentaufnahme also nichts wert, da ihre Gültigkeit auch gleich Null sein kann!

Man kann sich also nicht einmal selbst kennen, da man sich auch selbst überraschen kann! Und solange wir nicht in der Lage sind unser eigenes Unterbewusstsein auslesen zu können, kennen wir niemanden! Aber genau das macht das Leben so interessant und lässt es niemals langweilig werden. Wir können jeden Tag unsere Mitmenschen neu „kennen lernen“, einschließlich uns selbst! „Hallo Ich… darf ich vorstellen: Ich!“